Irene Carst

Irene Martha Margarete Carst, geb. 26. 5. 1894 in Berlin, deportiert am 2. 4. 1942 in das Getto  Warschau, vermutlich von dort im Juli 1942 nach Treblinka, dort ermordet.

Adresse in Glindow:  Karl–Liebknecht–Straße 37

 

Irene Carst war die Tochter von Eli Carst (verst. 19. 10. 1919) und Martha Carst, geb. Pringsheim (verst. 25. 4. 1935 in Berlin). Die Eltern waren, wie auch Irene Carst selbst, evangelisch und besaßen in Zakrzewo (Kreis Jarotschin, Provinz Posen, seit 1919 zu Polen gehörend) ein Rittergut. Irene Carst legte ihr Abitur im November 1912 ab und studierte von 1912–1914 in Berlin und Oxford Kunstgeschichte und Philosophie. Im Ersten Weltkrieg war sie zunächst »Helferin«, dann »Hilfsschwester«, schließlich staatlich examinierte Krankenschwester und bis 1919 in der Verwundetenpflege tätig. Von 1920 bis 1923 studierte sie an der Ludwig–Maximilians–Universität München »Staatswirtschaft« und promovierte dort 1923 »magna cum laude« mit einer Arbeit zum Thema »Die Krankenpflege und ihre Erscheinungsformen in geschichtlicher Entwicklung«. Im Jahr 1925 arbeitete sie zeitweise als Stationsschwester in einem Krankenhaus für Nervenkranke in Gremsmühlen bei Malente.

Als das Glindower Gut Elisabethhöhe zwangsversteigert wurde, erhielt die » Siedlungsgesellschaft Deutsch–Land« den Zuschlag und wurde im Januar 1927 ins Grundbuch eingetragen. Das Gut wurde im Rentengutsverfahren besiedelt, und Irene Carst wurde zum selben Zeitpunkt dasjenige Grundstück als Rentengut übergeben, auf welchem sich das ehemalige Gutshaus befand. Dabei handelte es sich um eine repräsentative Villa, die in den Jahren 1921/22 errichtet worden war. Dazu gehörten acht Morgen Obst– und Ackerland. Dort hat sie sich »dauernd niedergelassen«, wie sie in einer Verhandlung zur Feststellung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft erklärt hat.

1927/28 erwirkte sie die Genehmigung zum Betrieb eines heilpädagogisch ausgerichteten  Landschulheims in diesem Gutshaus. Es sollten seelisch kranke Mädchen im Alter zwischen 10 und 16 Jahren aufgenommen werden, die in anderen Schulen nicht mit Erfolg unterrichtet werden konnten. Ein Arzt der Psychiatrischen Nervenklinik der Charité bestätigte ihr, dass »vor allem solche jungen Mädchen gemeint (sind), die auf Grund einer psychopathischen Konstitution, durch erzieherisch unzweckmäßiges Milieu, durch eventuelle Pubertätsschwierigkeiten, durch andere äußere Momente in ihrer Weiterentwicklung (besonders nach asozialer Richtung hin) gefährdet erscheinen«.

Wie Irene Carst dieses Heim und das Grundstück entzogen worden sind, hat sich nicht im Detail aufklären lassen. Jedenfalls wurde dort schon ab ca. 1934/1935 ein Heim für die »weibliche Jugend des Reichsarbeitsdienstes« betrieben. Die »Maiden« arbeiteten tagsüber auf den umliegenden Feldern. In einem Beitrag zum Kreiskalender für den Kreis Zauch–Belzig aus dem Jahr 1939 heißt es, dass »unsere Siedler und Obstzüchter […] sich unseren weiblichen Arbeitsdienst gar nicht mehr wegdenken (können) von Glindow, sie sind mit dem Arbeitslager zusammengewachsen«. Das Heim besaß offensichtlich einen gewissen Vorzeigecharakter, denn es wurde zahlreichen in– und ausländischen Gästen, NS–nahen wie anderen, vorgeführt:

[…] Und bei der Heimfahrt gehen die Gedanken noch immer wieder zurück zu diesem Lager, das für viele andere Vorbild geworden ist, das wegen seiner wundervollen Lage und vorbildlichen Führung immer wieder von Journalisten und Gästen nicht nur aus dem Inlande, sondern weit mehr noch aus dem Auslande aufgesucht wird. Und wenn man das Gästebuch durchblättert, dann liest man darin die Sprachen fast der ganzen Welt. Englisch und französisch, italienisch und spanisch, norwegisch und schwedisch, die Sprachen des Balkans sowohl wie die Schriftzeichen der Chinesen und Japaner. Und Namen findet man darin, die Weltgeschichte bedeuten: Ministerpräsident Stjodinowitsch und Sven Hedin, Frau Magda Goebbels und Frau Ciano–Mussolini, Namen der Minister der verschiedenen Staaten und Länder. Und wenn Sven Hedin auf den Spruch im Speisezimmer der Maiden »Bereit zum Dienen« besonders in seiner Eintragung im Gästebuch hinweist, dann hat er den tiefen Sinn des weiblichen Arbeitsdienstes wohl am besten erkannt: Ja, allzeit »Bereit zum Dienen!« (Kreiskalender […] 1939).

Nach dem Krieg standen Grundstück und Gebäude zunächst unter Verwaltung des Finanzamtes Beelitz. Die Villa wies »erhebliche Kriegsschäden« auf und wurde zunächst für private Wohnzwecke genutzt, ab 1. 5. 1950 wird sie aber als »ehemaliges N. S. Vermögen« [!] dem »Rat der Gemeinde Glindow zur Errichtung eines Kindergartens und Kulturheimes« übertragen und schied aus der Verwaltung des Finanzamtes aus.

Über Irene Carsts Schicksal zwischen 1933 und 1942 ist so gut wie nichts zu erfahren. Im Mai 1938 fahndet die Gestapo Halle (Saale) in verschiedenen Gemeinden nach der »jüdischen Emigrantin« Dr. Irene Carst und zwar u. a. in der Stadt Belgern/Elbe. Mündlicher Familienüberlieferung nach sei sie auf der Rückreise aus London verhaftet worden. Sie habe die Chance einer Auswanderung abgelehnt und habe in Deutschland bleiben wollen. Eine Schwester Irene Carsts, Dr. Agathe Carst (geb. 1896 in Berlin), arbeitete 1926–1928 am Kaiser–Wilhelm–Institut für physikalische Chemie in Berlin–Dahlem u. a. zusammen mit Fritz Haber. Ihr gelang die Emigration nach Brasilien, wo sie 1975 verstarb.

Im März 1942 wird Irene Carst als Patientin in das Jüdische Krankenhaus Berlin aufgenommen. Sie wurde offenbar von dort mit dem 12. Osttransport am 2. April 1942 in das Getto Warschau deportiert und ist dort umgekommen oder im Zuge der sog. »Großen Aktion«, der Räumung des Gettos im Juli/August 1942, im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden.

Quellen: BArch: Gedenkbuch […], BLHA: Rep. 36 A (II) Karteikarte und Akte Nr. 5539 (Martha Carst), Rep. 2 A Reg. Potsdam I St, Nr. 4763, Rep. 31 A, Nr. 1120; Pr. Br. Rep.24, Nr. 1412, Rep. 204 A (Min. d. Fin.) 1951; StA Leipzig, Bestand 20597 Stadt Belgern, Akte Nr. 110; UALMU: Studentenkartei und Promotionsakte; Zs. f. Kinderforschung 34 (1928), S. 482, Zs. »Die Frau. Monatsschrift 35 (1927); Bund Deutscher Frauenvereine, Jahrbuch 1929, S. 89; Michael Engel, Die Pringsheims. Zur Geschichte einer schlesischen Familie (18.–20. Jahrhundert), in: Aus Wissenschaftsgeschichte und –theorie. Hubert Laitko zum 70. Geburtstag […], hg. von Horst Kant und Annette Vogt, Berlin 2005, S. 189–219, 201f.; M. Grothe, Lager des Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend in Glindow, in: Kreiskalender für den Kreis Zauch–Belzig 1939; Monika von Koss, Geschichten einer Familie (privates Typoskript im Besitz der Familie).