9.11.2017: Gedenken an das Novemberpogrom in Werder

Wie kann man auch heute noch Interesse wecken am Thema Reichskristallnacht? Das gelingt auch 79 Jahre danach, indem man Nähe schafft. Eine eindringliche Erinnerungsveranstaltung an die Geschehnisse rund um das Novemberpogrom von 1938 hat am Abend des 9. Novembers in Form von einer Autorenlesung im Werderaner Theater Comédie Soleil stattgefunden.

Joachim Thiele kündigte „harten Tobak” an und die von Heinz Burghardt verlesenen Zeugenberichte verfehlten
nicht ihre Wirkung – die Zuhörer waren erschüttert und mucksmäuschenstill. Hartmut Röhn ordnete als Einstieg souverän die lokalen Geschehnisse in den geschichtlichen Gesamtkontext ein.

1852 gab es in Werder lediglich zwei Juden. Im Zeitraum von 1920 bis 1943 lebten in der Blütenstadt über hundert Einwohner jüdischen Glaubens, häufig mit einem weiteren Wohnsitz in Berlin. Schon vor Beginn der Machtübernahme durch Hitler und die NSDAP 1933 hatte die dann unermüdlich von Himmler und Goebbels angefachte reichsweite Propagandawelle eingesetzt. Sie ging mit sich stetig radikal verschärfenden Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Juden einher, gipfelnd im Holocaust.

Letztendlicher Auslöser der Pogromnacht war der Tod des deutschen Gesandtschaftsrates Ernst vom Rath am 9. November, herbeigeführt durch das Attentat des 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan am 7. November in Paris. Die Gewaltspirale kulminierte und es gab eben auch in Werder nachweislich Zerstörungs- und Plünderungsaktionen. Grüppchen aus SA- und SS-Leuten, Angehörige der Hitlerjugend und weiterer NS-Organisationen agierten mit sinnloser Zerstörungswut und physischer Gewalt. Reichsweit wurden über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört. An die 400 Menschen wurden getötet oder in den Suizid getrieben. Feuerwehrleute bekamen die Order, nur bei nichtjüdischen Wohnhäusern Brände zu bekämpfen.

Im Stadtarchiv sind im Bauaktenbestand Protokolle zur Pogromnacht in Werder erhalten geblieben, die exzessive Zerstörungen bei acht Familien und Geschäftsleuten dokumentieren. Mit brachialer Gewalt wurde sämtliches Inventar, darunter neben den Fensterscheiben nahezu die gesamte Wohnungseinrichtung bis hin zu unersetzlichen erlesenen Kunstschätzen mit Äxten zerschlagen, in Wände gehackt und die Wohnungen und Häuser komplett unbrauchbar gemacht.

Zerstört wurden unter anderem das Textilgeschäft von Curt Olschowski in der Brandenburger Straße und das Kaufhaus von Max Jacob in der Torstraße sowie Privathäuser und -wohnungen, und zwar im gesamten Stadtgebiet. Heinz Burghardt verlas u. a. einen Zeugenbericht aus Entschädigungsakten über die Verwüstungen im Hause der Familie von Oskar Fleck, Am Zernsee 5. Bereits vor dem 9. November wurde das Ehepaar Guttmann im Herbst 1938 zweimal in seinem Haus am Mühlenberg von einem Trupp Männer überfallen. Die Gebrüder Hartmann, wohnhaft am Plessower See, versteckten sich während der Verwüstung ihres Hauses im Schilfgürtel des Sees und die Familie Gelhar aus der Eduard-Lehmann-Straße (heute Puschkinstraße) flüchtete mit dem Boot auf den Glindower See. Auch die irrtümliche Zerstörung der im Volksmund so genannten „Judenburg“ (Haus am Plessower See 159) von Rechtsanwalt Richard Rosendorff wurde erwähnt – es gehörte bereits seit 1934 einem nichtjüdischen Besitzer.

Ein großer Teil der jüdischen Bürger Werders und Glindows, dem es zuvor noch nicht gelungen war zu emigrieren, ist im Laufe der Jahre 1939 und 1940 nach Berlin gezogen, wo sie sich einen größeren Schutz erhofften.

Siegfried Birkholz und Karoline Hugler brachten sich ein, indem sie über das weitere Schicksal der genannten Familienmitglieder berichteten. Birkholz trug übrigens eine Kippa !

Eine anschließende Publikumsfragerunde ergab weitere erhellende Informationen. Der „Kaddisch der (Auschwitz) Vögel“ ließ den Abend nachklingen.

Der Eintritt war an diesem Abend frei, aber es wurden Spenden gesammelt für die Verlegung weiterer Stolpersteine in Werder. Nach den intensiven Recherchen der Arbeitsgemein schaft wären 10 bis 12 weitere Erinnerungssteine in Werder denkbar, die pro Stück etwa 120 Euro kosten würden. Mehr Informationen gibt es auf der neuen Website der AG (www. juedische-schicksale-werder. de) und natürlich im Gedenkbuch „Jüdische Schicksale“.

Hinweis: Seit kurzem sind die Informationen über die Schicksale der ehemaligen jüdischen Einwohner Werders und seiner Ortsteile während der NS-Diktatur auch im Internet zugänglich: www.juedische-schicksaIe-werder.de. Die Webseite erlaubt mit einer interaktiven Karte über Marker den Zugriff auf die jeweiligen Wohnadressen und die Biographien der Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in die Emigration getrieben, deportiert und ermordet oder anderweitig verfolgt worden sind. Die biographischen Informationen sind dem im Dezember vorigen Jahres erschienenen Gedenkbuch für Werder entnommen. Die Kapitel über die Stationen der Verfolgung, den Umgang mit den enteigneten Grundstücken und die diversen Anhänge sind über die Webseite jedoch nicht zugänglich, sondern weiterhin lediglich über das Buch, von dem eine Restauflage noch über den Buchhandel erhältlich ist: Hartmut Röhn (Herausgeber), Jüdische Schicksale. Ein Gedenkbuch für die Stadt Werder (Havel) und ihre Ortsteile, Berlin (Lukas Verlag)2016, ISBN 978-3-86732-240- 9, € 14.90.

© Heidi Ungerath / Werder Life Nr. 65 v. 29.11.2017